Rezension von Erpenbecks „Gehen, ging, gegangen“

Gehen, ging, gegangen. Der Titel von Jenny Erpenbecks preisgekröntem Roman lässt schon erste Rückschlüsse zur in Grundschulen unterrichteten Grammatik zu. Für eine große Gruppe der Bevölkerung ist dieser Deutschunterricht von existenzieller Bedeutung. Insbesondere für die Gruppe derer, die hierher geflüchtet sind, die Gruppe der Flüchtlinge. Genau dieses Thema thematisiert Erpenbeck und dies in einer durchaus schweren Zeit, in der die Stimmung in der Bevölkerung nicht mehr hätte aufgeheizt sein können, als im Jahre des Zenits der Flüchtlingskrise 2015.
Aus dem oben genannten Volk würde der Protagonist besonders hervorstechen. Jener Protagonist ist nämlich Professor bzw. emeritierter Professor für Altphilologie und taucht nach seiner Verabschiedung von der Universität in seine neu gewonnene Freiheit ein. Diese gestaltet sich für Richard zunehmend schwierig, da er absolut nichts anzufangen weiß mit seiner Zeit und in Gedanken versinkt, welche den Lesefluss nicht unbedingt fördern. Zwischen der Beschreibung der Ästhetik von Zwiebeln schneiden, dem Frönen des abendlichen Fernsehens oder dem Sinnieren über den Toten im See, taucht zu oft ein Archimedes oder Seneca auf. Ähnlich des Toten im See schaltet sich hier auch das Gehirn des allgemein belesenen Lesers aus, um dann in einigen Zeilen später wieder auf den Pfad des vermeintlichen Alltages aufzuspringen.

Gerade bedingt durch die oftmals hochgestochene Sprache Richards ist eine Identifikation nicht möglich und es erweckt eher den Eindruck, in einer seiner Univorlesungen zu sitzen. Aber auch seine Erinnerungen an vergangene Zeiten mit seiner Frau oder seine Kindheit in der Deutschen Demokratischen Republik erwecken den Eindruck, dass er doch lieber die Vergangenheit mochte als die Gegenwart. Wertet man dann seine Einschübe über den ehemaligen Namen des Supermarktes zu DDR-Zeiten und seine Erläuterungen über den Import afrikanischer Arbeiter im Namen der sozialistischen Idee in die DDR, kommt es nicht nur so rüber, als wäre er einer der Besten im Pflichtfach Marxismus-Leninismus gewesen, sondern dass er viel mehr ständig die Gegenwart in Bezug zur Vergangenheit setzt. Dieser Vorgang wird besonders bei dem Umgang mit den Flüchtlingen deutlich, welche er letztendlich besucht, um aus seinem Tiefschlaf der Langeweile zu erwachen. Auch hier wird erneut deutlich, dass Richards Wissensschatz umfangreicher ist als so mancher der Leser. Es ist somit kaum verwunderlich, dass er den Flüchtlingen Namen aus philologischen Werken und aus seiner Vergangenheit gibt, so ergänzen sich Apoll, Tristan und der Schwarze Mond von Wismar perfekt in dem aufgewühlten Meer in Richards Kopf, auf dessen Grund bisweilen der Tote vom See liegt, der ebenfalls seit Beginn des Buches dieses Meer befährt. Richards Rolle als Akademiker wird erst dann von Bedeutung, als ersichtlich wird, dass auch er, welcher die Merseburger Zaubersprüche kennt, nicht durch die europäische Asylpolitik durchblickt.
Es lässt sich also festhalten, dass durchaus manchmal die Intention Erpenbecks erkennbar ist und doch bewusst wird, dass jener Roman nicht die Begleitlektüre zum Seminar „Pension- was nun?“ des Seniorenstiftes „Zur Goldenen Ähre“ ist, sondern ein politisch polarisierendes Schriftstück sein sollte. Die Wirkung allerdings geht verloren, da die Hauptfigur, sei es aufgrund ihrer hochgestochenen philologischen Vergleiche oder ihrer generell melancholischen Art, diesem Anliegen im Wege steht und das Lesevergnügen in diesem Sinne verdirbt. Oder anders ausgedrückt, man muss schon Richard sein und sich in dieser Figur wiederfinden, um diese Lektüre als ein berauschendes Gegenstück zum trüben Alltag zu empfinden.

Finn Bünnemann

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