Rezension von Jenny Erpenbecks: “Gehen, ging, gegangen” (2015)
Tristan, Apoll, der Blitzschleuderer. Die richtigen Namen der Flüchtlinge kann sich Richard nicht merken. Er ist emeritierter Professor, ein intellektueller Ostdeutscher mit Langeweile.
Und worin resultiert Langeweile zumeist? Im Willen, etwas zu tun, seinem Leben einen Sinn zu geben, Bemühungen anzustellen, um sich noch einmal gebraucht zu fühlen.
Und dieser äußert sich bei Richard eben durch das Interesse an den Geflüchteten, die auf dem Oranienplatz in Berlin eines Tages zufälligerweise seine Aufmerksamkeit erregen. Welch glückliche Fügung, nicht nur für den Protagonisten, sondern auch für die deutsche Leserschaft, die sich doch so gern damit profiliert, ein politisch relevantes Stück im Bücherregal zu haben, bestenfalls mit dem Stempel „preisgekrönt“.
Jenny Erpenbeck, die meist übersetzte Autorin der Gegenwart, liefert dieses Werk, in dutzende Sprachen übersetzt und hochaktuell: „Gehen, ging, gegangen“.
Ein Titel, der zum Lesen anregt. Eine Erzählung, die zu Tränen rührt.
Im Gegenteil. Die Geschichte zu allgemein gehalten, die Charaktere ohne tiefere Bedeutung, ein Protagonist, mit dem zu sympathisieren schwer fällt. Woran liegt das? Richard ist Repräsentant einer verunsicherten Nation. Und trotzdem oder vielleicht gerade deshalb, wirkt er blass, fast nichtssagend. Er als Person ist für seine eigene Geschichte irrelevant.
Erpenbeck beschäftigt sich mit einem heiklen, aber wichtigen Thema. Die Gemüter scheiden sich schon seit Langem an der Flüchtlingspolitik und das werden sie auch weiterhin tun. Das Problem ist, dass Menschen sich nicht überzeugen lassen, indem sie mit einer extremen Mitte konfrontiert werden. Der Leser wird nicht dazu gezwungen, sich selbst zu reflektieren, weil Richard das bereits an seiner Stelle tut.
Er muss seine Komfortzone zu keinem Zeitpunkt verlassen, hat deshalb gar keine Möglichkeit, sich gedanklich weiterzuentwickeln.
Der Roman verschenkt sein Potential also an Verallgemeinerungen, degradiert sich zu einer konfliktscheuen Version seiner selbst, obwohl eigentlich das Gegenteil der Fall sein sollte. Wer ein Buch über ein umstrittenes Thema schreibt, noch dazu in einer angespannten Zeit, der kann sich nicht hinter Meinungslosigkeit verstecken, der muss einen Standpunkt vertreten, auch wenn dieser auf Ablehnung stoßen könnte. Die Botschaft, die Erpenbeck überbringt, ist zwar durchaus löblich und bedeutsam, aber zu konfus, zu stark versachlicht, um zu berühren. Die reale Dramatik, die sich hinter den Schicksalen der Flüchtlinge verbirgt, nicht nur im Heimatland sondern auch in der Deutschen Bürokratie, wird zu einem Einheitsbrei verkocht, der sich nach Belieben formen und in die gewünschte Form pressen lässt, um eine Idealgeschichte zu konstruieren, die ihren Wiedererkennungswert letztlich doch nur durch ihre Thematik behält.
Erpenbecks Welt lebt von ihrer akkuraten Imperfektion, von ihrer unter künstlichen Makeln versteckten Vollkommenheit. Dezent wiederkehrende Motive wie aus der Schulbuchlektion über stilistische Mittel, Charaktere wie Scherenschnitte – präzise ausgeschnitten, aber trotzdem farblos. Der Roman schleicht auf Zehenspitzen um seine Ziele herum, lässt hier und da ein paar philosophische Phrasen fallen, verfolgt diese aber nicht weiter. Und eine Moral allein macht noch keinen Roman.
Carlotta Rohwer